Farbe, Dichtung…

„Man kann nicht mehr von Politik, Bilanzen und Kreuzworträtseln leben. Man kann nicht mehr ohne Dichtung, Farbe, Liebe leben.” Diese Worte stammen von Antoine de Saint-Exupéry, einem französischen Aristokraten, Flieger und Schriftsteller, der zwar nicht katholisch war, jedoch in seiner Seele einen Kampf gegen den Materialismus des 20. Jahrhunderts ausfocht. Er sagte über sich selbst: „Ich bin ein Mann, der Asche durchsiebt, ein Mann, der verzweifelt versucht, auf dem Grund einer Feuerstelle die Glut des Lebens zu finden.” In seinem philosophischen Erinnerungsbericht Wind, Sand und Sterne (1939) schilderte er eine Szene, in der Arbeiter und ihre Familien in einem Nachtzug von Paris nach Warschau zusammengepfercht sind, und bemerkte dazu, dass ihn nicht ihre desolate Lage quälte, sondern dass er „in all diesen Menschen ein wenig den Mord an Mozart erblickte ”.

Dieses Zitat fällt mir ein, nachdem ich letztes Jahr die Bertramka besucht habe, eine Villa etwas ausserhalb des Zentrums von Prag in der Tschechischen Republik, die im späten 18. Jahrhundert durch mehrere Besuche des berühmten Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart bekannt geworden war. Damals konnte man sie von der Stadt aus in einem halbstündigen Marsch über Landstrassen und einen von Rosskastanien gesäumten Pfad erreichen; man betrat dann das Tor zum Vorderhof, der auf einen abschüssigen Garten mit Blumenbeeten und Obstbäumen hinausging. Heute ist die schattige Strasse einem riesigen Einkaufs- und Geschäftszentrum längs einer städtischen Strasse gewichen, auf der der Strom der Fahrzeuge lediglich durch die Verkehrsampeln aufgehalten wird. Das Tor steht immer noch da, doch der abschüssige Garten ist verwildert; man findet dort eine einsame Statue des grossen Tonschöpfers und jenen steinernen Tisch, auf dem er die Komposition seiner weltberühmten Oper Don Giovanni abgeschlossen haben soll. Schon bald darauf dirigierte Mozart die erste Vorstellung dieses Werks in der – immer noch in Betrieb befindlichen – städtischen Oper. Die beiden Zimmer, die Mozart in der Bertramka besetzte, sind im ursprünglichen Zustand bewahrt, aber eine einst dort vorhandene schöne Sammlung von Gegenständen, die irgendwie mit dem Komponisten verbunden waren, war im Oktober vergangenen Jahres nicht mehr dort. Die Bertramka hat immer noch eine ganz eigene Atmosphäre, doch vieles flüstert dort nur vom „Mord an Mozart”.

Doch war das Prag des 18. Jahrhunderts sehr freundlich zu dem grossen Komponisten gewesen. 1786 wurde Mozarts ebenso populäre wie berühmte Oper Figaros Hochzeit hier – im Gegensatz zu Wien – mit begeistertem Beifall bedacht, ebenso wie ein Jahr später Don Giovanni. Und als Mozart 1791 starb, liess ihn seine Heimatstadt Wien in einem Armengrab beisetzen, während Prag ihn mit einer gewaltigen Totenmesse ehrte, die von Tausenden besucht und von Hunderten von Musikern ausgeführt wurde, welche jede Bezahlung dafür ablehnten. Katholische Kaiser und Adlige hatten, um das katholische Böhmen nach dem verheerenden Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) wieder aufzurichten, zahlreichen böhmischen Kindern und Jugendlichen die Gelegenheit geboten, eine musikalische Ausbildung zu erhalten, um beim Gottesdienst musizieren zu können. Diese katholische Erziehung brachte in Prag ein Publikum hervor, das imstande war, Mozart und seine Musik auf Anhieb zu lieben.

Kann man dasselbe von den heutigen Katholiken sagen, oder sind wir auch „Mozartmörder”? Für Saint- Exupéry war Mozart das genaue Gegenteil des Materialismus. Doch wie viele Traditionalisten fühlen sich heutzutage durch eine gesungene Messe gelangweilt und können es kaum erwarten, zu ihren Bilanzen und Kreuzworträtseln zurückzukehren? Und schämen sich heute leider viele unserer Knaben nicht fast schon dafür, dass sie singen können? Über unsere Mädchen breitet man lieber den Mantel des Schweigens . . . . Würden sehr viele von ihnen nicht lieber Astronautinnen oder Volleyballstars werden, statt ein Musikinstrument zu spielen, das ihnen dabei helfen könnte, ihre Ehemänner zu zivilisieren, ihre Kinder zur Menschlichkeit zu erziehen und für Harmonie in ihrem Heim zu sorgen? Ein deutsches Sprichwort besagt, dass die Männer die Kultur schaffen, die Frauen sie jedoch weitergeben. Ist es nicht selbstmörderisch für eine Gesellschaft, in ihren Mädchen nicht die wahre „Kultur, Dichtung und Liebe” zu fördern, die einen segensreichen Einfluss auf ihre Familien und durch ihre Familien auf die Gesellschaft ausüben würden?

Was Mozart betrifft, so ist er sicherlich nicht der Höhepunkt der Spiritualität in der abendländischen Musik, und gegen das Ende seines kurzen Lebens trat er der Freimaurerei bei, was damals in Wien sehr modisch war. Doch ist er unvergleichlich spiritueller als die Welt der Einkaufszentren und Verkehrsampeln, wie Saint-Exupéry klar begriff, und es waren gewiss nicht die Freimaurer, sondern seine tiefkatholischen Eltern, die in dem Kind und Jugendlichen jenes katholische Herz formten, dem die ganze Spiritualität der Musik des Erwachsenen entsprang. Das am häufigsten gespielte Werk Mozarts ist sicherlich das kurz vor seinem Tod komponierte Ave Verum Corpus, weil es so oft in der Messe aufgeführt wird. Und an seinem zutiefst katholischen Requiem arbeitete er noch auf dem Totenbett. Möge seine Seele in Frieden ruhen!

Kyrie eleison.