Gott Beruft Ein

Pater Jean-Michel Gleize, Theologieprofessor an dem von der Priesterbruderschaft St. Pius X. geleiteten Seminar von Écône, hat zwei Artikel zu brennenden Problemen unserer Tage verfasst, die ein interessantes Licht auf deren Lösung werfen. Erstens: Kann der Papst der formellen Häresie verfallen? Seine Antwort lautet: Vielleicht, weil die in den letzten paar Jahrhunderten vorherrschende Ansicht, Päpste seien gegen den Irrtum gefeit, vorher durchaus nicht allgemein vertreten wurde. Zweitens: Zeigt das päpstliche Dokumente Amoris Laetitia, dass Papst Franziskus sich der formellen Häresie schuldig gemacht hat? Diese Frage beantwortet Pater Gleize so: Im engen Sinne des Wortes nein, aber praktisch gesehen vielleicht schon, weil der Neomodernismus die Doktrin unterminiert, während er vorgibt, sie zu bewahren. Dieser zweiten Frage werden wir uns erst in einem folgenden „Kommentar” zuwenden, doch wenn sich Pater Gleize nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen wollte, zwischen zwei Stühlen – dem Sedisvakantismus und dem Liberalismus – zu sitzen, musste er sich zuerst mit der ersten Frage auseinandersetzen.

In seinem ersten und kürzeren Artikel schreibt er, seit der protestantischen „Reformation” hätten die katholischen Theologen im allgemeinen, insbesondere aber St. Robert Bellarmine, die Ansicht vertreten, der Papst könne die Sünde der bewussten und hartnäckigen Leugnung des kirchlichen Dogmas, d. h. formelle Häresie, nicht begehen. Diese Theologen berufen sich auf Unseren Herrn, der Petrus auftrug, seine Brüder im Glauben zu stärken (Lukas XXII, 32), was voraussetzt, dass Petrus selbst des Glaubens nicht verlustig gehen kann. Des Weiteren argumentieren sie, noch nie in der ganzen Kirchengeschichte sei ein Papst der formellen Häresie verfallen. Andererseits, sagt Pater Gleize, hätten die katholischen Theologen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, also vor der protestantischen Revolution, allgemein die Auffassung verfochten, ein Papst könne durchaus der formellen Häresie verfallen, und diese These wird, wenn auch nicht von sehr vielen, bis in die Gegenwart verfochten.

Pater Gleize folgert hieraus, dass insbesondere wegen der Konzilspäpste die späteren Theologen ihre These nicht bewiesen hätten. Bezüglich des Arguments, Petrus werde von Unserem Herrn dauerhaft davor bewahrt, formelle Häresie zu begehen, gilt: Der Glaube ist ein aus freiem Willen erfolgter geistiger Akt, und Gott greift nur selten in den freien Willen des Menschen ein. Bezüglich der historischen Päpste wurde beispielsweise Honorius von seinen Nachfolgern verflucht, weil er die monothelitische Häresie begünstigte. Diese Schlussfolgerung ist in der Tat umstritten, doch betrachtet man die Frage vom historischen Standpunkt der sieben Zeitalter der Kirche, ergibt sie durchaus einen Sinn.

Nach den ersten drei Zeitaltern – Apostel (33–70), Märtyrer (70–312) und Kirchenväter (312 bis ca. 500) – trat die Kirche in ihr viertes Zeitalter ein, den tausendjährigen Triumph der Christenheit (ca. 500 bis 1517). Doch im Spätmittelalter schlich sich der Teufel dank der Erbsünde in die Christenheit wieder ein, und die Menschen läuteten das fünfte Zeitalter ein, dasjenige der Apostasie (1517-?), in dem entartete Christen eine Form der Heuchelei nach der anderen erfanden (Protestantismus, Liberalismus, Kommunismus und andere mehr), angeblich um christlicher Tugend und Zivilisation zu huldigen; in Wirklichkeit, um sich von der Moral zu „befreien”, um den neusten Greuel wie die gleichgeschlechtliche „Ehe” propagieren zu dürfen.“ „Heuchelei ist die Huldigung, die das Laster der Tugend entbietet”(La Rochefoucauld).

Nun hätte Gott das Mittelalter ja für immer fortdauern lassen können, doch dann hätte er die Menschen ihres freien Willens berauben müssen. In dieser Notlage schenkte Er Seiner Kirche eine auserlesene Schar von Heiligen, welche die Gegenreformation leiteten, und im Verlauf des nächsten halben Jahrtausends erwuchs Ihm, um die Bevölkerung Seines Himmels zu mehren, eine Schar nachmittelalterlicher Heiliger. Aber um der Korruption des nachmittelalterlichen Menschen entgegenzuwirken, traf Gott die Wahl, die Autorität in Seiner Kirche zu verstärken, so dass Seelen, die zwar nach Rettung trachteten, doch bereits nicht so sehr aus innerer Tugend, wenigstens durch eine äussere Autorität in den Himmel geführt werden konnten. Hierauf reagierte der Teufel natürlich, in dem er insbesondere Kirchenmänner in hohen Positionen umgarnte, und nach fast einem halben Jahrtausend war es, als sagte der Herrgott: „Wenn ihr Meine Kirche nicht wollt, könnt ihr eure eigene Neukirche haben”, und das war Vatikan II.

Somit ist die Autorität der Kirche heute dermassen angeschlagen, dass sie durch Menschenwerk nicht mehr zu retten ist, und Gott wird zu anderen Mitteln greifen, um aus unserer spirituell erschöpften Welt noch eine weitere Schar von Seelen in Seinen Himmel zu führen. Eine Züchtigung der sündigen Menschheit wird gewährleisten, dass die Kirche des sechsten Zeitalters anfangs in herrlichem Glanze erstrahlen wird, doch der Teufel wird sich dank der Erbsünde die Tatsache zunutze machen, dass die menschliche Natur durch den Liberalismus des fünften Zeitalters zutiefst geschwächt ist, so dass es wohl nicht allzu lange dauern wird, bis das siebte Zeitalter, das des Antichristen, anbrechen wird. Dieses wird jedoch das Zeitalter einiger der grössten Katholiken der gesamten Kirchengeschichte sein – einer Schar besonders grosser Heiliger.

Kyrie eleison.