Ibsens Rosmersholm
Henrik Ibsen (1828–1906) war ein berühmter norwegischer Dramatiker, den man oft ehrend als „Vater des modernen Dramas“ bezeichnet. Er war kein Katholik, sprach aber eine grosse Wahrheit aus, und wie St. Augustinus einst sagte, gehören alle Wahrheiten den Katholiken (weil ihr Gott „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist). Aus diesem Grund können Katholiken Wahrheiten, die von Nichtkatholiken ausgesprochen werden, manchmal sogar noch mehr schätzen als Nichtkatholiken. Die grosse Wahrheit Ibsens besteht darin, dass sogar im prüden und heuchlerischen Norwegen des späten 19. Jahrhunderts, wo das Leben und die Freude unter einem Bleigewicht sterbender Traditionen erstickt wurden, sich der menschliche Geist protestierend erhob und den Tod einer Existenz vorzog, die ohne sichtbare Freiheit und ohne erkennbaren Sinn in einer Sackgasse steckte.
Veranschaulichen wir diesen Protest anhand dreier Schauspiele aus Ibsens späterer Phase, in der er den Schwerpunkt vom Drama der modernen Gesellschaft auf jenes des Individuums verlagert. Rosmersholm (1886) endet damit, dass der Held und seine geliebte Frau gemeinsam in den Tod gehen. In Baumeister Solness (1892) stürzt die Titelfigur am Schluss von einem hohen Turm, den zu erklimmen von Anfang ein selbstmörderisches Unterfangen war. In John Gabriel Borkman (1896) erfriert der Protagonist bei einem ebenfalls buchstäblich selbstmörderischen Versuch, einen eisigen Berghang zu erklettern. Doch in allen drei Fällen kämpfte der Held für die Freiheit des menschlichen Geistes gegen eine Welt, die diesen Geist erstickt. Werfen wir nun einen näheren Blick auf eines dieser Dramen, Rosmersholm, das kürzlich mit grossem Erfolg in London aufgeführt wurde. Ibsen lebt!
Jedes Drama benötigt eine dramatische Konfrontation. Bei dieser Konfrontation steht in Rosmersholm auf der einen Seite die alte Welt der Familie Rosmer und ihres Herrenguts, das in den vergangenen 200 Jahren hervorragende Soldaten und Geistliche hervorgebracht hat, welche der ganzen Region als Vorbild dienten und eine Führungsrolle spielten; auf der anderen Seite steht die aufsteigende neue Welt der Emanzipation und Freiheit von all diesen alten Werten. Die zentrale Gestalt des Schauspiels ist der letzte Spross dieses edlen Geschlechts, Johannes Rosmer, ein ehemaliger Pfarrer, der jedoch seinen christlichen Glauben verloren hat und nun zwischen den beiden Welten hin- und hergerissen ist. Verkörpert wird der Gegensatz zwischen den beiden Lagern durch zwei Männer – Dr. Kroll, einen kaltherzigen Konservativen, der versucht, Norwegen vor dem überall vordringenden Liberalismus zu retten, dessen eigene Frau und Kinder jedoch zu den Liberalen übergegangen sind, und dem Herausgeber der lokalen radikalen Zeitung, Mortensgaard, der bei seinen Versuchen, Rosmer auf seine Seite zu ziehen, wenigstens ebenso anrüchig vorgeht wie Kroll. Rosmer selbst hat sich zumindest theoretisch für die neue Welt der Freude und Freiheit gewinnen lassen, und zwar durch die entzückende junge Frau Rebekka West, die jahrelang seine platonische Gefährtin gewesen ist.
Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als Rosmer gegenüber Kroll bekennt, dass er seinen Glauben verloren hat und beabsichtigt, sich öffentlich für die Liberalen zu engagieren. Kroll versucht mit allen – lauteren und unlauteren – Mitteln zu verhindern, dass Rosmer seine Person und seinen Ruf in die Waagschale wirft, um den moralischen Zerfall zu unterstützen. Von Kroll unter Druck gesetzt, begreift Rebekka, dass sie in ihrem Kampf, Rosmer von seinem edlen, aber drückend auf ihm lastenden Erbe zu befreien, selbst von diesem Erbe, nämlich Rosmersholm, besiegt worden ist. Am Ende sehen Johannes und Rebekka keinen anderen Weg mehr, sowohl die neue Freiheit als auch die alte edle Tradition zu retten, als sich gemeinsam in den reissenden Mühlbach von Rosmersholm zu stürzen. Somit lautet Ibsens Botschaft: Die alte edle Tradition ist freudlos, der neue Konservatismus herzlos, und die neue Emanzipation ist nicht besser. Als scheinbar einziger Ausweg bleibt dem unglücklichen Paar nur noch der Tod.
Ist das alles finsterer Unsinn, dem die heutigen Katholiken nichts abgewinnen können? Keineswegs; es ist ein realistisches Porträt unserer Zeit. Wenn der Glaube stirbt, wie bei Rosmer und bei Milliarden von Seelen in unseren Tagen, vermag der Konservatismus letzten Endes nichts mehr zu bewahren, und eine linke Ideologie (Mortensgaard) vermag nicht mehr, als gottloses Benzin in ein gottloses Feuer zu giessen. Der Emanzipation (Rebekka) fehlt dauerhafte Schlagkraft, und der liberale Todeswunsch gewinnt die Oberhand. Wenn jemand wie Rosmer das Leben will, ja sogar Leben im Überfluss (Johannes X, 10), dann muss er in sich selbst den Glauben seiner wahrhaft edlen Ahnen erwecken, was bedeutet, dass er noch weiter gehen muss als selbst die besten unter seinen protestarischen Vorfahren, nämlich zurück zu den Katholiken, die Norwegen christlich gemacht haben. Lasst Rosmer wahrhaft katholisch werden, und dann werden Kroll, Mortensgaard und Rebekka die wahre Lösung erblicken können, und die ganze Region kann wieder im Lichte Christi aufleuchten.
Kyrie eleison.