Madirans Vorwort

Jean Madiran leitet das Vorwort zu seinem Buch über die Häresie des 20. Jahrhunderts mit der kühnen Aussage ein, dass die Verantwortung für diese Häresie eindeutig bei den katholischen Bischöfen liege (S. 17 in der Neuauflage des Buchs, via.romana@yahoo.fr). Da er sich bewusst war, dass man ihm als Laien die Befugnis absprechen würde, sich zu diesem Thema zu äussern, hielt er trotzig fest, als getaufter Katholik brauche er nicht um ein Mandat zur Verteidigung des Glaubens zu bitten und kein solches zu erhalten, wenn die Hirten – oder Bischöfe – zu Wölfen geworden waren oder zu Häretikern, die den Glauben zerstörten (S. 28).

Madiran nimmt (auf S. 26) eine entscheidend wichtige Unterscheidung vor, welche die These seines gesamten Buchs in sich birgt. Im engen Sinn des Wortes bedeutet”Häresie” die bewusste Leugnung dessen, von dem man weiss, dass es ein klar festgelegter Grundsatz des Glaubens ist. Doch im weiteren Sinn bedeutet sie die Annahme einer allgemeinen Denkweise, die dem Glauben radikal fremd ist. Jene Art von Häresie, die er in seinem Werk anprangern wird, gehört der zweiten Kategorie an und geht weit über den Widerspruch gegenüber dem einen oder anderen Glaubensgrundsatz hinaus.”Die Häresie des 20. Jahrhunderts», meint er, finde sich vielmehr”in der Nacht, in der Leere, im Nichts». 

Und wie haben die französischen Bischöfe diese Leere geschaffen? Madiran schreibt (S. 20), sie hätten schon seit mehr als hundert Jahren, bis zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Lehre Roms – welches damals das wahrhaft katholische Rom Pius’ IX. und des Syllabus war – nicht mehr in reiner Form vertreten, weil ihre ganze Mentalität sich Schritt für Schritt von Rom entfernt habe (S. 21). Sie wachten zwar über die katholische Disziplin, aber ohne Überzeugung; sie pflegten katholischen Gehorsam, ohne den Grund dieses Gehorsams zu begreifen. 

Madiran stellt hier die Essenz der präkonziliaren Kirche mit einigen wenigen Worten bloss: Sie untersteht dem Einfluss der modernen Welt und verliert den katholischen Glauben nach und nach, mit dem Ergebnis, dass eine Kirche entsteht, wo der Schein immer noch gewahrt wird, die Substanz hinter dem Schein jedoch zusehends schwindet. Wie die wahre Kirche dieser neuen Revolution Widerstand zu leisten hatte, legten antiliberale Päpste – insbesondere Pius IX., Leo XIII. und Pius X. – in ihrer Soziallehre dar, doch von ihren sozialen Rundbriefen, meint Madiran, hätten die Bischöfe in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts so gut wie nichts mehr gewusst (S. 23).

Noch schwerwiegender war für Madiran ein Punkt, der Teil VI seines Buchs prägen wird: Die Häresie des 20. Jahrhunderts, derer sich diese Bischöfe schuldig machten, bestand in ihrer allumfassenden glaubenslosen Mentalität, die in Abrede stellte, dass es so etwas wie das Naturrecht überhaupt gibt (S. 24). Von der modernen Welt magnetisch angezogen, vom Liberalismus infiziert, waren sie dem guten Rom schon seit langem geistig entfremdet und verwarfen seine Soziallehre, aber in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wiederholten sie immer noch mechanisch gewisse Formeln des alten Katechismus. Nichtsdestoweniger war in ihren Herzen jeder Sinn für das Naturrecht verloren gegangen, und dies bedeutete, dass sie in den Jahren unmittelbar nach dem Konzil bereit waren, den Katechismus und die Dogmen anzutasten, die sie bis dahin äusserlich intakt gelassen hatten. Somit lief ihre Meinungsverschiedenheit mit Rom bezüglich der Soziallehre auf eine völlige Umgestaltung der christlichen Religion hinaus, unter der die ganze Kirche nach dem Konzil zu leiden hatte (S. 25).

Wenn es nämlich kein Naturrecht oder keine rationale Ordnung gibt, die von Gott in die ganze Schöpfung um uns herum eingebettet ist, muss jede Form von Vernunft und Glauben Schiffbruch erleiden, und auch wenn die Formeln des Evangeliums und die dogmatischen Definitionen noch eine Zeitlang korrekt rezitiert und wiederholt werden mögen, ist ihre Substanz bereits verloren gegangen, und die ganze Religion ist völlig untergraben worden. Bischöfe, die nichts vom Naturrecht wissen oder wissen wollen, haben keinen Zugang zum Evangelium oder dogmatischen Definitionen mehr. Sie können nichts mehr bewahren oder weitergeben (S. 26). Sie sind reif für einen massiven Linksrutsch, für die Ersatzreligion der Moderne, bei der es sich um den Kommunismus handelt (S. 26).

Zum Abschluss seines Vorworts verweist Madiran auf einen Landsmann, der diese Dekadenz des Klerus schon vor dem Ersten Weltkrieg voraussah. Charles Péguy (1873–1914) schrieb anno 1909, der Klerus zerstöre das Christentum nachhaltig, indem er von ihm verlange, mit dem Zeitgeist Schritt zu halten (S. 30). Weil sie ihren Glauben selbst verloren hatten, nahmen diese Kleriker sein Verschwinden als etwas Natürliches hin (S. 32).

Kyrie eleison.