Brexit – II

Ein mit Recht berühmtes englisches Gedicht aus dem 19. Jahrhundert wirft viel Licht auf das unbeschreibliche Chaos, das durch den Versuch des britischen Volkes, die Fesseln der Europäischen Union abzuschütteln, entstanden ist. Dieses Gedicht, „Dover Beach,“ stammt von Matthew Arnold (1822–1888), der es wahrscheinlich im Jahre 1851 verfasst hat. In vier ungleich langen Strophen verleiht der Dichter seiner tiefen Melancholie Ausdruck, während er an der Küste des Ärmelkanals steht und dem unablässigen Rauschen der Brandung vor dem Hause lauscht, wo er die Nacht mit seiner geliebten Frau – vermutlich seiner Ehegattin – verbringt.

Der erste Vers ist eine schöne Beschreibung des mondlichtüberfluteten Strandes und der Brandung; er schliesst mit der „ewigen Note der Traurigkeit,“ die der Verfasser im Schlagen der Wellen zu hören vermeint. Als ausgewiesener Kenner der antiken Literatur erinnert er sich an ein Zitat des griechischen Tragödiendichters Sophokles (496–406 v. Chr.), der in derselben hin- und herwogenden Brandung vor mehr als zwei Jahrtausenden „die stürmische Ebbe und Flut des menschlichen Elends“ hörte, und Arnolds Geist wendet sich den tiefen Erschütterungen seines eigenen, viktorianischen Zeitalters zu. Arnold war niemals Katholik, doch in der dritten Strophe erklärt er diese Erschütterungen damit, dass sein 19. Jahrhundert dabei war, den Glauben zu verlieren, dessen „melancholisches, lange verebbendes Rauschen“ er im Klang der zurückweichenden Brandung zu hören vermeint.

Für das Problem, dass das Leben aus dem weicht, was einst die Christenheit war, vermag er nur eine einzige Lösung zu erkennen, die er in der vierten und letzten Strophe erwähnt: Er wendet sich seiner geliebten Frau zu, die neben ihm steht, und bittet sie, ihm treu zu bleiben, denn die Liebe zueinander ist im Grunde das Einzige, was sie besitzen. Somit hat laut dem düsteren Schluss dieses Gedichts

alles
weder Freude, noch Liebe, noch Licht,
Noch Gewissheit, noch Frieden, noch Hilfe im Leiden,
Und wir befinden uns hier wie auf einem verdunkelten Schlachtfeld,
Worüber schallen verworrene Rufe von Kampf und Flucht
Da, wo unwissende Heere nachts aufeinanderprallen

Arnold besass also noch genügend Glauben, um zu erkennen, dass das Grundproblem seiner Zivilisation der Verlust der religiösen Überzeugungen war, doch war sein Glaube nicht stark genug, um auf die wirkliche und existierende Alternative zu der durch den Glaubensverlust verursachten Dunkelheit und Verwirrung zu vertrauen, auf die katholische Kirche nämlich. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Brexit-Anhängern: Diese besitzen noch genügend viel gesunden Instinkt, um zu spüren, dass die Europäische Union einen Irrweg beschritten hat, doch da die Überreste religiösen Glaubens bei ihnen noch schwächer sind als damals bei Arnold, vermögen sie noch weniger als er zu erkennen, wie sie dem „verdunkelten Schlachtfeld“ entrinnen können. Aus diesem Grund ist und bleibt der Streit um den Brexit ein „Aufeinanderprallen unwissender Heere in der dunklen Nacht,“ weil beide Seiten die Debatte auf rein wirtschaftlicher Ebene führen, während die wirkliche Debatte religiöser Natur ist und die wahre Schlacht zwischen den letzten Überresten der christlichen Nationen auf der einen und den Kohorten des Antichristen mit seiner Neuen Weltordnung auf der anderen Seite geschlagen wird. Diese religiöse Dimension verleiht der Debatte hüben und drüben ihre Kraft; der Mangel an Religion hüben und drüben ist der Grund dafür, dass die Debatte dermassen konfus verläuft.

Denn Gott ist in der modernen”Zivilisation” in der Tat der Grosse Abwesende, aber wie Kardinal Pie einst sagte: Wenn Er nicht durch seine Gegenwart herrscht, wird Er durch seine Abwesenheit herrschen. Ohne Ihn wird die Brexit-Debatte ganz überwiegend mit wirtschaftlichen Argumenten geführt, und hier sitzen die Brexit-Anhänger am kürzeren Hebel. Doch werden sie willens sein, sich Gott zuzuwenden? Das ist die Frage.

Kyrie eleison.