Madiran – These VII
Madiran - These VII on Dezember 12, 2020
Teil V ist nicht der leichteste Teil des 1968 erschienenen Buchs von Jean Madiran (1920–2013) über die Häresie des 20. Jahrhunderts, weil er sich mit dem Naturrecht auseinandersetzt, das für moderne Geister schwer zu erfassen ist. Der Grund dafür besteht darin, dass der Schöpfergott, der Erschaffer des Naturrechts sowie jener, der es all Seinen Geschöpfen einprägt, der grosse und gute Gott, für die überwältigende Mehrheit der modernen Geister ein Buch mit sieben Siegeln ist. Nichtsdestoweniger ist das Naturrecht für Madiran so wichtig zum Verständnis der Häresie des 20. Jahrhunderts, dass er es ins Zentrum der letzten seiner sieben Thesen rückt, die er den Schriften des französischen Bischofs Schmitt entnahm, um einer ansonsten formlosen Häresie trotz allem eine gewisse Form zu verleihen. Hier nun eine Zusammenfassung von Madirans Analyse:
7 Das Naturrecht ist der Ausdruck des kollektiven Bewusstseins der Menschheit. Hieraus folgt, dass es kein objektives moralisches Gesetz gibt, das von Gott stammt und von Ihm im Herzen des Menschen festgeschrieben wird, sowie die immerwährende Kirche immer gelehrt hat.
Der Grund dafür, dass Bischof Schmitt die Existenz eines solchen göttlichen Gesetzes bestreitet, liegt allem Anschein nach darin, dass es das Sozialleben des Menschen zu mechanisch macht, als ob die Lösung sämtlicher sozialer Probleme der Menschen aus einem Lehrbuch abgelesen werden könnte. Doch Gottes Lehrbuch für den Menschen räumt diesem volle menschliche Freiheit selbst in der Gesellschaft ein, während die Leugnung des Naturrechts, laut Madiran, die Erkenntnis von Recht und Unrecht nicht mehr auf objektives göttliches Recht gründet, sondern auf das subjektive menschliche Bewusstsein, also letzten Endes auf überhaupt kein Recht mehr. Der Mensch ist zwar frei und verantwortlich, doch ist er nicht frei, seine eigenen Gesetze zu machen. Und die Soziallehre der Kirche nimmt Gottes Naturrecht zwar als Ausgangspunkt, doch um es auf die gewaltige Vielzahl neuer konkreter Situationen in unserer Zeit anzuwenden, bedarf es einer sehr grossen Arbeit, wie sie Pius XII. seinerzeit vollbracht hat.
Ausserdem: Wie kann es ohne natürliches Recht oder natürliche Ordnung im Menschen selbst noch irgendetwas Übernatürliches geben? (Welche”Natur”gäbe es dann, worüber die”Uebernatur”über-stehen sollte?) Es kann dann keine zehn Gebote mehr geben (die das Naturrecht ausdrücken), keine Nächstenliebe mehr (die den Anfang und das Ende der zehn Gebote bildet), keine Naturreligion mehr (die durch das Naturrecht begründet wird), kein Sozialleben mehr (das natürliche Gerechtigkeit voraussetzt), kein christliches Leben mehr (das natürliche Tugenden voraussetzt), und so weiter und so fort. Kurzum, wenn es kein Naturrecht gibt, wird jede Vorstellung einer christlichen Gesellschaft unmöglich; es kann dann überhaupt keine Gesellschaft mehr existieren und erst recht keine christliche.
Einwand: Jedes gute Recht ist klar und eindeutig. Doch wenn das Naturrecht eine dermassen komplizierte Deutung erfordert, kann es weder klar noch eindeutig sein. Deswegen ist es kein gutes Recht. Antwort: In seiner absoluten Grundlage –”Tue das Gute, scheue das Böse”– ist das Naturrecht klar und unerschütterlich. In allem, was von dieser Grundlage abgeleitet wird, ist es für uns Menschen nicht so klar, und es kann erschüttert oder in Frage gestellt werden, doch in sich selbst ist es klar, so wie wenn beispielsweise ein guter Richter in einem verworrenen Rechtsstreit Gerechtigkeit walten lässt. Das Naturrecht ist uns Menschen von innen durch den Verstand bekannt und von aussen durch die Offenbarung, beispielsweise die Offenbarung der zehn Gebote an alle Menschen durch Moses.
Im dritten und letzten Kapitel von Teil V seines Buchs legt Madiran die spirituellen Folgen der Leugnung des Naturrechts dar, die er zuvor in These 7 auf die Häresie des 20. Jahrhunderts zurückgeführt hat. Das Resultat für den individuellen Katholiken ist, dass ihm ein wahres Verständnis des christlichen Lebens sowie die Einsicht, wie weit sein eigenes Leben von diesem entfernt ist, nicht mehr zugänglich sind. Er hat keinerlei Vorstellung von der absoluten Notwendigkeit der übernatürlichen Gnade mehr, um ein christliches Leben zu führen. Er wähnt, durch eigene Kraft ein anständiges Leben zu führen, aber aus diesem Leben sind das erste, zweite, dritte und vierte Gebot verschwunden; das fünfte und das siebte mögen immer noch lebendig sein, doch das achte ist geschwächt, und das sechste, neunte und zehnte Gebote sind oft ebenfalls verschwunden. Dennoch glaubt er, durch seine sentimentale Liebe zum Nächsten, die durch kein objektives Recht diszipliniert wird, seinen Nächsten so zu lieben, wie Christus uns geliebt hat, so dass er zufrieden mit sich selbst ist. In diesem Fall, hält Madiran fest, kann er nicht gerettet werden. Kein Wunder, dass ein solcher Mensch eine”Veränderung des Konzepts der Rettung, die durch Christus gebracht wurde”verlangt – und hier schliesst sich der Kreis, denn wir sind wieder bei der ersten der sieben Thesen, in denen Madiran die Häresie des 20. Jahrhunderts zusammenfasst.
Kyrie eleison.